In diesem Kapitel widme ich mich meinen persönlichen Eindrücken, die ich von Land und Leuten in Polen sammeln konnte sowie dem besonderen und schwierigen deutsch-polnischen Verhältnis. Die Texte sind zwar schon etwas in die Jahre gekommen; doch sind sie m.E. nach wie vor lesenswert.
Nachdem ich mit meiner polnischen Freundin, um die Jahrtausendwende mehrfach das Land Polen bereiste und zu Landschaft, Kultur und Menschen eine besondere Nähe entwickelte, habe ich im Sommer 2006 die Stadt Wroclaw (Breslau) allein besucht - nachdem die Beziehung zu jener Freundin zuvor endete. Hier folgt nun das Reisetagebuch (an dessen Ende sich meine Fotogalerie mit Bildern von Wroclaw befindet) meiner 4-tägigen Reise:
Persönliche Reisenotizen aus Wroclaw
„Noch nie war es so, dass es nicht irgendwie geworden wäre“ (polnisches Sprichwort)
Dies ist kein literarisches Reisetagebuch. Es erhebt keinen Anspruch auf irgendeine schriftstellerische Qualität. In erster Linie sind diese Notizen aus meiner Freude und Lust am Niederschreiben des von mir Erlebten entstanden. Für mich waren diese kleinen Episoden und Begebenheiten in Wroclaw (Breslau) durchaus aufregend, wenngleich sie im Kontext manch anderer Erlebnisberichte belanglos erscheinen mögen. Dennoch ist dieses kleine Reisetagebuch authentisch. Ich habe nichts erfunden oder hinzu gedichtet.
Auch wenn ich sicher kein Experte für polnische Geschichte bin, schien es mir zum besseren Verständnis der polnischen Mentalität sinnvoll, zu mindestens einige erläuternde Stichworte zur Historie Polens in den Text einfließen zu lassen.
Da eine Reise in neue Bezirke der Außenwelt auch immer eine Reise in bisher unbekannte Regionen der Innenwelt bedeutet, habe ich darüber hinaus auch einiges von dem festzuhalten versucht, was sich bei diesem kleinen Reiseabenteuer an Empfindungen und Gefühlen in mir ereignet hat.
Tja, wie kam ich bloß darauf, in meinem Sommerurlaub nach Wroclaw (Breslau) zu fahren, als einsamer Ritter meines (touristischen) Erlebnishungers ? Ich wollte meinen Sommerurlaub jedenfalls nicht nur in meiner Heimatstadt Hamburg und deren Umgebung verbringen sondern, ganz mit mir allein, eine etwas weitere Reise wagen. Dabei stand Polen als geplantes Reiseland an erster Stelle. In Ustka, an der polnischen Osteseeküste, früher „Stolpmünde“, wo meine Mutter in ihrer Jugend die Sommer verbrachte, bekam ich kein Zimmer und die Vorstellung, eventuell bei Wolken und Regen am Strand herum zu wandern, ohne die Chance auf wirklich schönes Badewetter, schien mir nicht wirklich einladend. Außerdem war die Reiseroute jener sehr ähnlich, die ich in den letzten Jahren mit Katarzyna, meiner ‚alten’ polnischen Liebe, oft befahren habe. Die Gefahr, dabei in Erinnerungsbildern sehnsuchts- und schmerzerfüllt zu schwelgen, sollte ich besser abwenden, so viel war mir klar. Dennoch trage ich seit dieser Zeit, in der wir oft gemeinsam Polen bereisten, eine tiefe Sehnsucht nach diesem Land, seinen Landschaften und Menschen in mir. Aber wollte ich mit diesem für 4 bis 5 Tage geplanten Trip nach Breslau eine diffuse und subtile Nähe zu IHR, meiner unerfüllten Liebe, herstellen, oder gab es in mir einen echten und tiefen Wunsch, Polens Land und Leute auch unabhängig von IHR zu begegnen ? Ich konnte es nur heraus bekommen, wenn ich dort hin fuhr. Insoweit musste ich das Risiko, den Schmerz der Trennung von IHR noch mal auf ganz andere Weise zu spüren, eingehen.
Donnerstag, 10. August 2006
Einen Tag vor Abreise: Rein ins Internet, ´ne preiswerte Herberge suchen, im Vertrauen darauf, dass alles irgendwie gut wird. Die Dame vom „Domy Turystyczne“ am Telefon ist freundlich und macht mir einen guten Preis: 60 Zloty pro Zimmer und Nacht (das sind etwa 16 Euro). Die Fahrkarte ist mit 163 Euro etwas teuer. Hätte ich mich 3 Tage vorher entschieden, was ich infolge meiner Unentschlossenheit nicht vermochte, wäre der Fahrpreis um die Hälfte billiger gewesen. Was soll ´s, der Entschluss steht nun nach langem Zaudern endlich fest, also gibt es jetzt auch kein Zurück mehr.
6 Uhr 42 geht der Zug von Altona, fährt in einem Rutsch durch. Prima. Die Nacht vorher beschert mir Unruhe und Schlaflosigkeit. Angst – bin ich dem Abenteuer des Alleinseins in der Fremde gewachsen ? Endlich aufstehen, kalt duschen, den Fotoapparat nicht vergessen, schließlich will man hinterher auch was zu zeigen und zu erzählen haben.
Freitag, 11. August 2006
Ich bin pünktlich um 6 Uhr 25 am Bahnhof. Mein IC, mit dem Endreiseziel „Krakow Glowny“ steht schon auf Gleis 11. Einen Fenstersitzplatz (Nummer 111 in Wagen 270) habe ich mir reservieren lassen. Im Zug sitze ich entgegen der Fahrtrichtung. Ein Zeichen ? Mit dem Rücken nach vorn ? Seltsame Art, sich fortzubewegen ! Dann steigen immer mehr Frühaufsteher dazu. Niemand, der mich interessiert. Ich bin allein. Da gibt’s kein Vertun. Müdigkeit schläfert mich ein. Der Kaffe aus dem Bord-Bistro hat bisher nicht gewirkt, obwohl die Brühe 2,70 Euro kostet. In Berlin wird’s noch voller. Ich sitze im Raucherabteil. Die Leute kommen manchmal aus anderen Abteilen, um bei „uns“ ihrer Nikotinsucht zu frönen und verdrücken sich dann wieder. Danke für euren Qualm. Aber, was soll’s, ich rauche schließlich auch. Eine Clique Berliner Schnauzen macht laute Unterhaltung, die Bierflaschen klappern in den Tüten; alle sind gut drauf. Der Zugführer kündigt ausführlich jeden Bahnhof an, auf Deutsch und Englisch. Polnisch geht wohl nicht über die Lippen, scheint nicht den Gepflogenheiten zu entsprechen, obwohl eigentlich nur Deutsche und Polen an Bord sind – keine Engländer oder Amerikaner. Zwischendurch habe ich Beklemmung, was soll ich allein in Polen ? Verstehe doch kein Wort. Erinnerungen an frühere Depressionen in der Fremde kommen in mir hoch. Ich bete Affirmationen: Ich bin gewachsen, stärker als in alten, neurotischen Zeiten !
An der Grenze kommen zwei Zöllner, ein deutscher mit weißer Mütze, ein polnischer, bewaffnet, im Tarnanzug. Schrille Mischung die Beiden. Pässe werden kontrolliert. Polen ist zwar in der EU, dennoch wird es die Grenzkontrollen noch für ein paar Jahre geben. Vor allem den Zigarettenschmuggel will man unterbinden, denn Zigaretten sind in Polen wesentlich günstiger, eine Schachtel LM kostet zurzeit z.B. 5,60 Zloty (etwa 1,50 Euro).
Die Fahrkarten werden zum wiederholten Mal abgestempelt. Ich schaue, langsam wacher, konzentriert aus dem Fenster. Polnische Landschaften sind anders, nicht wegen des Grüns, das kümmert sich nicht um nationale Zugehörigkeit. Aber die Häuser, die vorüber gleiten, sind oft grau, braun, notdürftig ausgebessert. Es sieht manchmal aus, wie nach dem Kriegsende. Ruinen, Verfall, kein gewachsener Wohlstand, kein ästhetischer Fortschritt, nichts Buntes. Nur die Natur glänzt in allen Farben. Storchennester, Grau- und Fischreiher, wilde Wiesen, dichte Mischwälder. Auch Überschwemmungen, Weiden und Felder stehen unter Wasser, die Flüsse und Bäche sind prall gefüllt, strömen wirbelnd am Fensterblick vorbei. Weiße, dicke Wolken verhängen bisweilen das strahlende Blau des Himmels, die Sonne wärmt meine Seele. Irgendwie fühle ich mich im ‚fremdem’ Polen ein Stück Zuhause. Hat die deutsche Seele unterirdische slawische Wurzeln. Für mich jedenfalls scheint es zu stimmen.
Zwischendurch höre ich Gesprächsfetzen von deutschen Mitfahrenden. Ich interessiere mich nicht für jedes einzelne ihrer Worte. Doch ich spüre, dass sich so mancher in Haltung und Gestus auf subtile Weise so gibt, als sei man dem polnischen Land und seinem Volk überlegen. Wir sind reicher, wir sind wirtschaftlich fortgeschrittener. Müssen wir uns deshalb immer gleich besser, größer und mächtiger fühlen ? Wer hinter der polnischen Armutskulisse den Charme der Menschen, ihre kulturelle und menschliche Größe nicht sehen kann, ist von sich selbst geblendet. So jemand verpasst das Wesentliche, die echte Begegnung mit diesem Land. Ich mag die Polen. Ich mag auch ihre scheinbare Zurückgebliebenheit, die sich in Häusern mit abblätternder Farbe und morschem Gebälk, alten Menschen, die Fahrräder mit Bergen von gefüllten Plastiktüten vor sich herschieben, und Bahnhöfen, die seit 30 bis 40 Jahren keine bauliche Verschönerung erfahren haben, manifestiert. Doch sie verstehen etwas von Lebensfreude und Lebensgeschick; wer das entdecken will, muss genau hinschauen.
15 Uhr 30. In Wroclaw lasse ich den anderen Deutschen den Vortritt beim Aussteigen. Sie haben es eilig. Ich nicht. Als ich schließlich den Bahnhof verlasse, bin ich zunächst etwas orientierungslos. O.K., erst mal brauche ich polnisches Geld. Ich suche einen Geldautomaten, von denen es hier jede Menge gibt. Doch der erste, den ich finde, funktioniert nicht. Eine Mitarbeiterin in einer zweiten Bank hilft mir weiter, obwohl sie meint, ihr Automat würde manchmal auch nicht funktionieren. Bei mir funktionierte er. Beruhigend. 700 Zloty - das müsste erst mal reichen. Zurück zum Bahnhof, um die Straßenbahn, Linie 22, zu finden, deren Benutzung mir die freundliche Dame vom Hotel am Telefon empfohlen hatte. Die Vorbahnhofskulisse ist schwer zu beschreiben. Alles wirkt zwar typisch großstädtisch, viele Autos, Busse und Straßen-bahnen, viele Ampeln und umtriebige Fußgänger. Doch wie so oft in den postkommunistischen Ländern sehen die vielstöckigen Gebäude in den Straßenzügen eher grau und vernachlässigt aus, was weniger idyllisch wirkt als die verfallenen Häuschen in den dörflichen Regionen. Nur die bunten Reklameflächen bringen Farbe in diese Eintönigkeit. Um den Bahnhof herum stehen diverse, für Polen typische Kioske, in denen man von Seife, Rasierzeug, Limonade und Zigaretten alles kriegt, was man für den Alltag auf die Schnelle braucht. Kioske in Polen, das sind kleine quadratische Kästen, manchmal auch bunte, runde Häuschen, deren Fenster mit Waren voll gestellt sind und in denen sich auf maximal 2 qm eine Verkäuferin tummelt, die durch eine meist sehr kleine, verschließbare Klappe ihre Kunden bedient. Oft muss man sich bücken und fast durch das kleine Verkaufsfenster kriechen, um seinen Wunsch vorzutragen. Am ersten Kiosk kaufe ich Menthol-Zigaretten und rauche erst mal, um innerlich anzukommen. Dann suche ich die Straßenbahn, von denen vor dem Bahnhof zwar diverse Linien fahren, nur die Linie 22 nicht. An einem zweiten Kiosk bekomme ich den Abfahrtort meiner Bahnlinie genannt, die mich ins Hotel bringen soll. Ich muss mit meinem leichten Gepäck etwa 200 m laufen, die Sonne ist ziemlich intensiv und meine Jacke viel zu warm. An der Ampel warte ich. Die Grünphase für Fußgänger ist kurz. Bevor sie auf Rot wechselt, blinkt das grüne Männchen warnend: Beeilung ! Straßenbahnen und Autos „lauern“ schon. Meine 22er-Bahn fährt mir vor der Nase weg. Laut Plan kommt die nächste in 15 Minuten. Kein Problem, ich habe Zeit. Ich frage einen jungen polnischen Mann, ob man den Fahrschein (bilety) in der Bahn kauft. Nein, die bekäme man am Kiosk um die Ecke. „Jedno bilety“ sage ich und eine Sprite dazu. Ich schwitze und habe Durst. Das bilety kostet 2 Zloty (etwa 0,50 Euro), egal, wohin man fährt. Cool. Zurück zur Haltestelle. Der junge Mann fragt, ob ich mein bilety bekommen habe. Sehr freundlich, ich fühle mich beschützt und umsorgt. Die Bahn kommt, ich steige hinten ein, das Ticket muss man an einem Knips-Automaten entwerten. Ich schiebe den Papier-schnipsel hinein, aber es passiert nichts. Da dies eine alte Straßenbahn ist, man muss ihn mit einem kleinen Hebel mechanisch durchlöchern, wie mir ein anderer Fahrgast erklärt. Dziekuje, Danke, man kümmert sich um mich.
Die Station, an der ich aussteigen muss, heißt „Ulica Mlodych technikow“ (ausgesprochen etwa: Ulieza Mwodäch Technikuff). Es sei die 6. Station, erklärt mir jemand auf Nachfrage. Dziekuje, Danke. Die Bahn klingelt hin und wieder, um Autos zu warnen, und quietscht manchmal bedenklich in den Gleisen. Ich schaue nervös aus dem Fenster auf die Namen der Halteschilder, um meine Station nicht zu verpassen. Ein anderer junger Mann fragt, wo ich hin will und beruhigt mich, noch zwei Stationen ! „Hier ist es, jetzt müssen sie aussteigen !“, sagt er auf deutsch. Dziekuje bardzo, vielen Dank. Die Bahn hält in der Mitte der Straße auf einem Halte-Areal, welches man nur durch einen Tunnel unter der Straße verlassen kann. Im Tunnelgang sitzen Männern und Frauen auf kleinen Hockern, die auf Decken Kleidungsstücke zum Verkauf ausgelegt haben. Auf der rechten Straßenseite angekommen, frage ich eine Passantin, nach der ulica trzemeska, jene Straße, in der meine Herberge angesiedelt ist. Im Moment ihrer Antwort sehe ich das Reklameschild des Hotels auf der gegenüberliegenden Straßenseite: „domy turystyczne“. Das Ziel ist nahe. Erleichterung. Meine Unterkunft liegt dicht an dieser breiten, vierspurigen Autostraße, allerdings seitwärts gelegen. Das Gebäude ist ein dreistöckiger, dreifarbiger Kasten, rotbraun, ocker und grau. Die Damen an der Rezeption blicken nach meinem „Dzien dobry“ (Guten Tag) auf und ich stottere auf Deutsch und Englisch, dass ich telefonisch ein Zimmer für 4 Tage vorbestellt habe. Obwohl ich diesen Satz im Zug auf Polnisch geübt hatte, ist er mir jetzt in der Aufregung entfallen. Man erinnert sich an meinen Namen und ich bezahle für 4 Tage im voraus: 240 Zloty, etwa 60 bis 65 Euro. Ich hätte ein Doppelzimmer mit Waschbecken. Toiletten und Dusche gäbe es im Flur. Den Schlüssel soll ich beim Weggehen immer abgeben, sie seien an der Rezeption 24 Stunden anwesend. Super. Zimmer 211 befindet sich im zweiten Stock. Das Haus hat über 100 Zimmer und den Charme eines „kommunistischen Arbeiterwohnheims“. Der Flur im 2. Stock ist endlos lang; eine Tür dicht neben der anderen. Ich öffne das Sicherheitsschloss. Das Doppelzimmer hat etwa 8 qm, 2 getrennt stehende Betten, der Sanitärbereich mit Waschbecken und Spiegel ist durch eine halbe Wand vom übrigen Zimmer getrennt. Dem Eingang gegenüber befindet sich eine Fensterfront mit drei Fenstern. Die Sonne scheint herein, es ist etwa 17 Uhr. Ich bin erfreut. Das Zimmer ist spartanisch, aber sauber. Ja, ein bisschen sauber darf es ruhig sein – auch für mich. Die Betten sind frisch bezogen. Angenehm. Ich blicke hinaus aus dem Fenster. Gegenüber steht ein graues Kastenhaus, abgesetzt mit alt-rosanen, quadratischen Farbflächen, alle Fenster im gleichen Format. Es ist hässlich, doch ich mag es. Warum ? Weil ich in Polen bin !
Ich packe meine Sachen aus, studiere den Reiseführer und bereite mich auf einen Besuch des Marktplatzes, eines der größten in Europa, vor. An der Rezeption kaufe ich „dwa bilety“ (zwei Fahrscheine) für die Straßenbahn, einen für die Hin- und einen für die Rückfahrt. Ich erkundige mich nach dem Weg. „Rynek“ hieße die Station, an der ich aussteigen müsse, ich könne jede Linie benutzen, die vor der Hoteltür hält, sie führen alle dort hin. Fein. Dobra.
Rynek. Der Marktplatz. Ich bin sprachlos. Riesig. Er wirkt fast größer als jener in Krakau, den ich von einer früheren Reise kenne. In der Mitte steht das alte Rathaus. Darin und drum herum, Kneipen, Cafes, Restaurants. Man kann sie kaum zählen. Die historischen Häuserfronten leuchten im Licht der Sonne in allen Farben, hervorragend restauriert. Ich gehe zur Touristen-Information, hole mir einen Stadtplan und erkundige mich nach Musikclubs mit Live-Musik. Ein Cafe, die Tische unter beschnittenen, runden Bäumen, mit Blümchen-Tischdecken hat es mir angetan. „Jedno piwo, prosze“. Ein Bier, bitte. Ich bekomme ein Zywiec, eins der leckersten Biere in Polen. Ich versuche weiter auf polnisch zu bestellen: salatka surowka. Die junge Serviererin freut sich über mein unbeholfenes Polnisch. Der Salat wird in einer Glasschüssel serviert und ist mit einer Porreestange garniert, deren feine Wurzeln mit Paprikapulver gefärbt sind. Sehr kreativ, sage ich der Kellnerin auf englisch. „I’ve never seen that before.“
Ich bin trotz Müdigkeit aufgekratzt und schon leicht betrunken. Die Sonne scheint mir ins Gesicht und ich sehe so viele schöne Frauen, die meinen Charme kennen lernen sollten. Ach, ist das Leben aufregend.
Nach dem zweiten Bier muss ich auf’s Klo. Przepraszam, gdzie sa toalety ? Verzeihung, wo sind die Toiletten ? So übe ich, meinen spärlichen polnischen Sprachschatz aufzubessern. Inzwischen bemühen sich zwei Kellnerinnen um meine Kaufkraft. Nach dem dritten Zywiec zahle ich, denn sonst trinke ich noch ein paar weitere Biere, um ihnen und mir eine Freude zu machen. Ich begebe mich zu dem empfohlenen Jazz-Club „Rura“, wo heute ein Live-Konzert stattfinden soll. Unterwegs entdecke ich ein altes, malerisches Cafe, das „Cafe Artzat“, dass ich am nächsten Tag besuchen möchte. Der Jazz-Club ist dunkel, draußen scheint noch die Sonne. Die Stimmung scheint mir etwas gedrückt. Sind Jazz-Fans latent depressiv ? Mir kommt es so vor. Ich trinke ein Tyskie-Bier und warte auf den Einlass. Eintritt 9 Zloty, etwa 2,50 Euro. Die Konzertbühne befindet sich in einem Kellergewölbe. Die Band ist jung und lässt auf sich warten. Ich fühle mich fremd, fast alle Besucher scheinen sich zu kennen. Ich kenne niemanden. Die Bühne ist eng, die Band spielt funky Jazz. Der Bassist zupft inspiriert und enthusiastisch sein Instrument, mit geschlossenen Augen. Er ist etwas laut, aber deutlich und prägnant, wie sich das für einen Bassisten gehört. Allerdings scheint er dabei manchmal seine Mitspieler zu vergessen. Er groovt, doch er kommuniziert nicht wirklich. Der drummer spielt brav, macht seine Sache befriedigend. Dem Gitarristen hängen die dunklen Haarsträhnen modisch gekämmt in die linke Gesichtshälfte. Er bedient seine Gitarre virtuos, der Sound könnte etwas bunter sein. Der Keyboarder gibt die Impulse, er scheint der Arrangeur und Kopf der Truppe zu sein, die sich mit dem Namen „coffee break“ kleidet. Die blonde, kleine Sängerin mit eng anliegender weißer Jeans ist der lächelnde Stern auf der Bühne. Sie singt in polnisch und englisch, gestikuliert dabei apart, kann starke und leise Töne gut variieren. Sie strahlt Freude aus und entfacht in einem die Lust, ihr aufmerksam zuzuhören und sie gerne anzuschauen. Sie hat das Potential für musikalischen Erfolg. Nur der Gesangssound ist etwas belanglos und dünn. Die Anlage scheint nicht adäquat justiert zu sein. In der Pause sage ich ihr in etwas holperigem Englisch, dass sie ihr Mikrofon etwas besser einstellen sollte, weil bei ihrer wundervollen Darbietung sonst etwas von dem Glanz ihrer schönen Stimme verloren ginge. Sie freut sich über mein Kompliment und meint, sie hätten keinen Mixer, den Sound würden sie selber am Mischpult auf der Bühne machen. Ja, ja – die Probleme, die dabei entstehen, würde ich auch kennen, erwidere ich. Mit dem Gefühl, wenigstens ein bisschen Kommunikation gehabt zu haben in dieser neuen, fremden Stadt, verabschiede ich mich, denn meine Müdigkeit zieht mich langsam in Richtung Bett.
Ich wandere auf dem Rückweg über den Rynek (Marktplatz) zum sogenannten Salzplatz (Plac Solny), wo eine Bühne aufgebaut ist, auf welcher sich Bürger vor dem umstehenden Publikum rhetorisch verausgaben können. „Hyde Park“ heißt das Motto der Veranstaltung, die vom lokalen Radiosender übertragen wird. Das laute Palaver wird von den Zuschauern angeregt begleitet. Seitlich dieses Geschehens sind ein paar Blumenstände aufgebaut, die ihre opulente Farbenpracht auf dem von Laternen erleuchteten Platz darbieten. Beschwingt vom Bier, der frischen Luft und meiner Liebe zu diesem freundlichen Sommerabend, erwerbe ich nach einigem Suchen einen kleinen Strauß gelber Rosen. Ich weiß nicht genau, für wen ich dies tue, ich habe einfach Lust, sie zu kaufen. Ich könnte sie mir auf’s Zimmer stellen oder den Damen von der Hotelrezeption schenken. Mal schauen. Die tramwajowy (Straßenbahn) bringt mich sicher in mein tristes, aber nettes Wohnheim. An der Rezeption warten sieben bis acht Leute, die um Unterkunft nachfragen. Ich fühle mich mit meinen Blumen in Anbetracht von so viel Publikum plötzlich etwas deplaziert und rauche draußen vor der Tür erst mal eine Zigarette. Als die Mehrzahl der Wartenden verschwunden ist, nehme ich meinen Zimmerschlüssel in Empfang und überreiche den überraschten Damen die Rosen mit der Bemerkung: „It’s for you. You’re doing a hard job, watching the whole night; enjoy the flowers !“ Sie bedanken sich etwas erstaunt und ich verziehe mich, ein wenig peinlich berührt, aber dennoch durch meinen Mut erstarkt, schwungvoll treppauf in mein Zimmer im 2. Stock. Dann gehe ich zum Pinkeln auf die Flurtoilette, schließe hinterher meine blümchenblaue Zimmergardine während ich einen Fensterspalt offen lasse, und lege mich in das frisch bezogene Bett. Das Kopfkissen ist ungewohnt groß und dick, aber ich schlafe gut diese erste Nacht, wenn auch etwas kurz.
Samstag, 12. August 2006
Morgens um 6 Uhr ist schon lautes Gepolter und Türenklappen zu hören. Hey, meine polnischen Freunde, ich habe Urlaub, ihr nicht ? Wahrscheinlich sind hier auch einige Arbeiter einquartiert, die jetzt zu irgendeinem Job müssen, denke ich mir. Ich schlafe wieder ein und wache pünktlich um 7 Uhr 23 wieder auf. Warum, weiß ich nicht. Ich wache übrigens die nächsten beiden Tage morgens stets zur gleichen Zeit auf, mit einer Variationsbreite von etwa 2 Minuten. Komisch. Ich schlurfe mit Unterhemd, gürtelloser Hose, barfuß und dem Handtuch über der Schulter den Flur entlang zur Dusche. Dzien dobry (Guten Morgen), sage ich freundlich zu meiner Nachbarin, die gerade ihre Zimmertür öffnet. Die Dusche ist halbwegs sauber, die dreigliedrige Schiebetür hat schon stabilere Zeiten erlebt, aber ich mag diese Art der Unvollkommenheit, sie entspannt mich. Dazu fällt mir ein wunderbares Zitat von Olga Tokarczuk ein, welches ich in dem Buch „Kulturschock Polen“ (Gawin/Schulze 2005) gefunden habe:
„Die stabile Krise ist der natürliche gesellschaftliche Zustand, den die Polen seit Generationen gewohnt sind und mit dem sie ausgezeichnet zurecht kommen. Es ist zu befürchten, dass jede Normalisierung der Verhältnisse gesellschaftliche Unruhen hervorrufen könnte.“
Nachdem ich (wie jeden Morgen) kalt geduscht habe, sind Körper und Geist wach. Auf dem Zimmer mache ich nach der Rasur meine tibetischen Fitness-Übungen, bürste das nasse Haar und stapfe voller Tatendrang und Entdeckerfreude los. Den Schlüssel gebe ich an der Rezeption ab und kaufe dort wieder dwa bilety für die Bahn. Draußen vor der Tür vernehme ich wohl klingende Klaviertöne, die aus dem verwahrlosten grau-rosanen Haus gegenüber kommen müssen. Das gibt es nur in Polen denke ich, klassische Live-Musik im Plattenbau !
Die Straßenbahn befördert mich erneut zum Rynek, dem Ausgangspunkt meiner täglichen Erkundungswanderungen. Auch heute bringt die Sonne die historischen Häuselgiebel in allen Farben zum Leuchten. Es ist 9 Uhr. Die Kneipen und Cafes bereiten sich erst langsam auf den Ansturm der Gäste vor. Ein Kawa z mlekiem (Milchkaffee) ist noch nirgends zu bekommen. Ich verlasse den fast menschenleeren Platz und marschiere einfach drauf los. In einiger Entfernung, hinter einer breiten Verkehrsader, sehe ich die „galeria dominikanski“, ein topmodernes, dreistöckiges Einkaufszentrum aus Glas, Stahl und Beton. Selbst die Namen der Einkaufszentren klingen irgendwie katholisch, denke ich. Es ist 9 Uhr 30, die Galeria öffnet gerade ihre Pforten. Ich beglücke für O,50 Zloty die geräumige Toilette zwecks Darmerleichterung und gönne mir an der Saftbar einen sok porzeczkowy, einen schwarzen Johannisbeersaft. Die Verkäuferin gibt mir freundlicherweise Nachhilfe in der Aussprache und macht mich damit glücklich. Vitamingestärkt kaufe ich Postkarten, die ich für mein Leben gerne schreibe, und stöbere in einer Damen-Boutique nach schöner Unterwäsche, die ich meiner Ex-Freundin mitbringen möge. Ich finde nichts Passendes und frage nach „Troll“, der Lieblingsmodefirma besagter Freundin. Die sei am Rynek, erfahre ich, na fein, also wieder zurück. Nachdem ich dort tatsächlich ein paar hübsche Exemplare gefunden und ein kleines Frühstück eingenommen habe, erkunde ich die diversen Baudenkmäler in den umliegenden Gassen und Straßen der stare miasto (Altstadt). Ich fotografiere, stöbere in Bildergalerien, kaufe znaczek pocztowy (Briefmarken) bei der poczta, schreibe Karten in einem schattigen Café und fühle mich vom Leben getragen. Etwas später flackert dennoch ein unsicheres Schwanken in mir auf, als ich mit jeder Faser meines Körpers spüre, wie fremd dieser schöne Ort für mich ist. Ich weiß, ich hatte als Kind oft Heimweh, wenn ich fort war von Zuhause. Doch jetzt vermisse ich mein Hamburg nicht. Nein, es ist einfach so, dass ich mich wie ein Schiff fühle, welches die Anker gelichtet hat und sich auf große Fahrt begibt. Ich kann mich nirgends festhalten, kein Ufer, kein Haltegriff für meine Seele. Der Boden unter meinen Füßen scheint bisweilen nachzugeben. Ja, so ist das, wenn ein „Fisch“ auf Wanderschaft geht, denke ich mit einer Portion Selbstironie. Und doch: ich genieße auch dieses Wankelmütige in mir. Wankel-mütig, wankend und mutig, ja, das ist eine passende Kurzbeschreibung für diesen Zustand des abenteuerlustig in der Ferne sein und sich gleichzeitig bei jemandem Vertrauten anlehnen wollen. Mein Tages-Mantra lautet deshalb folgerichtig: „Gott ist bei mir und das Leben liebt mich !“ Klingt ein bisschen nach ‚Pfeifen im dunklen Wald’, aber der Mensch braucht hin und wieder ein Beruhigungsmittel und etwas Rückenwind.
In der opulent gefüllten Markthalle kaufe ich mir einen grünen Apfel. Obst ist eingefangenes Licht, vergegenwärtige ich mir, das tut deinem Geist-Körper gut. Auf dem Weg zur Kirche St. Maria auf dem Sande, die 1334 – 1380 auf einer Sandinsel der Oder erbaut und nach den Kriegszerstörungen von 1945 wieder errichtet wurde, treffe ich einen indonesisch aussehenden, jungen Amerikaner, der mich bittet, ihn mit seiner Digitalkamera zu fotografieren. Er revanchiert sich mit zwei Bildern, die er mit meinem alten Fotoapparat von mir macht. Bei einer nahen Anlegestelle geselle ich mich auf ein kleines Ausflugsboot, der „Gondola Gucio“, und genieße eine 40-minütige Flussfahrt, die durch das eruptive Quängeln und Jammern eines kleinen Jungen, der dem Schoß seiner Eltern unbedingt entfliehen will, um mit seinem Spielzeugauto frei und ungehindert das Schiff zu erkunden, gestört wird. Sie halten ihn fest und versuchen immer wieder, ihn mit kleinen, ablenkenden Geschichten zum Verbleiben zu zwingen. Die schreiende Göre nervt mich zusehends, obwohl ich den Anlass seines Ärgers gut verstehen kann. Ängstliche Eltern sind überall gleich bescheuert. Ich grummel vor mich und denke bei mir: „Halte endlich die Schnauze, blöder Balg !“, oder auch: „Laßt ihn doch mal los, ihr spießigen Idioten !“ Irgendwann, nachdem er sich schließlich vom Haltegriff seiner Eltern gelöst hat, drehe ich mich um und lächle ihn wohlwollend an. Daraufhin kriecht er gleich wieder auf den Schoß seiner Eltern. Immerhin ist nun Ruhe und ich kann die vorbeiziehende grüne Flusslandschaft wieder genießen. Das Boot legt nach kurzer Zeit beim Breslauer Zoo an und die verkrampfte Kleinfamilie geht von Bord. Endlich. Mein unartikulierter Ärger ist noch nicht ganz verflogen und so stapfte ich nach der Rückkehr des Bootes mit energischen Schritten der Annenkirche, dem Augustiner-Kloster und der Sandkirche (St. Maria) entgegen.
Nachdem ich am Straßenrand bei einer wunderschönen Malerin mit schwarzen lockigen Haaren ein Bild für 25 Zloty erstanden habe, auf dem sie rückseitig ihre Internet-Adresse für mich notiert hat, damit ich weitere Malereien von ihr bewundern kann, betrete ich die Kirche St. Maria. Am Eingang verkauft mir ein kleiner Junge für 2 Zloty ein kleines Bild der Mutter Maria, welches nun meine Geldbörse schmückt. Ich setze mich auf die vorderste Holzbank, bringe meine Hände in Gebetsstellung und meditiere auf das Licht, welches durch ein buntes Kirchen-fenster über dem Altar scheint. Es wird still in meinem Kopf und ich fühle mich innerlich geweitet und gut "aufgehoben".
Zu Fuß zurück zum Rynek. Weiß nicht, wie viele Kilometer ich schon spaziert bin, aber meine Kondition ist erstaunlich gut. Ich esse einen Salat und begebe mich zu einer späten Siesta ins Hotel. Auf dem Weg fallen mir wieder die vielen schönen Frauen auf; Polens weiblicher Schmuck ist wirklich sehenswert. Die vokalen Pirouetten ihrer Sprechgesänge machen sie zusätzlich anziehend, wie die Sirenen des berühmten griechischen Epos’. Manchmal leide ich bei jedem Stück nackter Haut, das sich mir zeigt, wie ein Dürstender in der Wüste. Ich sehne mich nach Berührung, Kontakt, zärtliches Nahesein, Ohrflüstern. Und als ob es meiner libidinösen Qual nicht genug wäre, begegnen mir andauernd küssende Paare. Ich habe bisher nirgendwo sich so viele Pärchen öffentlich liebkosen sehen. Wunderbar und peinigend zugleich. Ach Gott, wann werde ich wieder lieben ? Mir scheint, als ob ich hier, in einiger Entfernung von meinem Zuhause in Hamburg, viel stärkeren Kontakt mit meinen tiefsten Wünschen habe.
Nach einem kurzen Schläfchen in dem von mir allein bewohnten Doppelzimmer, mache ich mich – nun schon ein vertrauter Weg – auf zum Marktplatz. Er ist mir ein Stück Heimat in der Fremde geworden. Ach Wroclaw, dein geschundenes Angesicht hatte mich zunächst verstört, doch wie viele Perlen und welch’ Charme verbergen sich hinter deiner spröden Oberfläche ?! Auf dem Rynek wird Musik geboten, drei Akkordeonspieler, die im rasenden Tempo Preludien von Bach und andere Klassiker absolvieren. Kraftvoll, inspiriert, auf magnetisierende Weise vorgetragen. Gegen 19 Uhr begebe ich mich in den Pub Literatka, da wo ich als „Reiseschriftsteller“ hingehöre. Ich trinke mein Lieblings-Piwo, Zywiec. Die Kellnerin lacht beim Bestellen ob meiner verfehlten Aussprache.
Ach, tut das gut, jemand, der mich mit mildem Humor wahrnimmt. Ihre Freundlichkeit tröstet meine von Sehnsucht wunde Seele. Ich trinke noch ein Bier. Und schreibe, voll des schöpferischen Drangs, Seite für Seite in mein Reisetagebuch. Plötzlich regnet es in Strömen, ich begebe mich unter den großen Sonnenschirm, doch der Wind weht die Tropfen in mein Gesicht. Ich verziehe mich in den Innenhof der Kneipe, dort ist es trocken. Es brennen nur Kerzen auf den Tischen, es ist fast zu dunkel, um zu schreiben, doch die Serviererin bringt mir noch eine zweite Kerze. Piekny, schön.
Immer wieder begegnen mir bettelnde Männer im fortgeschrittenen Alter, meist bärtig, manchmal mit cowboyartigen Hüten, und spüren mich mit meinem Sozialarbeiter-Herzen auf. Auch an diesem Abend setzt sich ein armer Geselle zu mir an den Tisch, als ich einen Toast bekomme, der das Bier in meinem Magen aufsaugen soll. Da er ganz offensichtlich Hunger hat, gebe ich ihm 2 Zloty. Die Kellnerin will ihn während dessen verscheuchen. Da er nicht gehen will, holt sie einen Kollegen zu Hilfe. Schließlich setzt er sich an einen Nachbartisch, zu seinen zwei Kumpels. Dort werden sie in Anbetracht des heftigen Regens geduldet. Als dieser etwas nachlässt, beschließe ich zu gehen, es ist etwa 22 Uhr und ich will meine Bahn nicht verpassen. Beim Verlassen des Lokals plaudere ich noch ein wenig mit der Kellnerin, erzähle ihr auf Englisch von meinen bisherigen Reisen nach Danzig, Krakau, den Masuren und Kaschubien. Ich würde Land und Leute und auch die Sprache mögen, doch leider könne ich sie bis auf einen minimalen Wortschatz nicht sprechen. Die Aussprache sei wegen der vielen Konsonanten, die unmittelbar nacheinander folgen würden, eine echte Herausforderung für meine Zunge. Ja, meint sie, polnisch sei ein bisschen so, wie wenn man einen Radiosender suchen würde, sie selbst würde sehr gerne englisch sprechen, was man ihr auf jeden Fall anmerkt. Sie gibt mir doch ein paar Tipps für’s Sightseeing, dann verabschieden wir uns.
An der Hotelrezeption erstehe ich noch dwa woda gazowany (zwei Selter) für den Nachtdurst. Ich brauche eine ganze Weile, um einzuschlafen. Nachts wache ich mit Juckreiz an Händen und Füßen auf. Mücken haben sich offenbar wohlig eingenistet bei mir. Ich ignoriere sie und schlafe weiter.
Sonntag, 13. August 2006
Sonntagmorgen, um 7 Uhr 25, wache ich auf. Ich würde gerne weiter schlummern, doch es klappt nicht. Das Leben will offenbar, dass ich aufstehe. Also stehe ich auf. Ich habe einen leichten Kater. Blick aus dem Fenster. Der Himmel ist grau, es nieselt. Auf dem Weg zum Bad grüße ich freundlich die Putzfrauen und stelle mich laut singend unter die Dusche: „Ach lieber Gott, lass doch die Sonne scheinen und den Himmel nicht mehr weinen. Lasst uns von den Mädchen schwärmen, die uns das Herz erwärmen !“, dichte ich singend vor mich hin. So mache ich mir gute Laune.
Mit der Straßenbahn fahre ich eine Station weiter als sonst, um zu schauen, wo ich lande. Die Station, an der ich aussteige, heißt „Podwale“, eine Art Ringstraße an der die Altstadt umarmenden Oder, mit grüner Promenade zum Schlendern. Ich gehe durch den Nieselregen; die von Bäumen umsäumten Wege sind noch weitgehend menschenleer. Aus der Corpus-Christi-Kirche erklingt Orgelmusik - Gottesdienstzeit. Nebenan füttert eine ältere Frau aus dem Klohäuschenfenster heraus verträumt die Tauben. Mir ist, als ob die Zeit stehen bleibt. Ich frage, ob ich sie fotografieren dürfe. Ich darf. Ich wandere weiter, kaum einer Menschenseele begegnend. Auf einem Denkmalsockel steht rechterhand ein geflügeltes Bronzepferd mit einem geflügelten Reiter. „Hermes mit Pegasus“ hat ein deutscher Bildungsexperte als Grafitti darunter gemalt. Komisch - aber nun bin ich etwas schlauer. Ein Stück weiter betrete ich ein großflächiges Gelände mit einem halbringartigen Säulengang. Wie ich erst später erfuhr, ist dies die Ruine von der „Liebichshöhe“, ein Belvedere, welches 1866/67 der Kaufmann Adolf Liebich erbauen ließ. Ein Jahr nach meinem Besuch wurde es (2008) restauriert und beherbergt heute wieder Gastronomie. In den unterirdischen Gemäuern dieser herrlichen Anlage hatte sich übrigens die Kommandantur der „Festung Breslau“ einquartiert. Die Anlage wurde in großen Teilen bei den Kriegskämpfen 1945 zerstört.
Auf grünen Umwegen lande ich an dem Seiteneingang des mir bekannten Einkaufszentrums, das auch sonntags von 10 bis 20 Uhr geöffnet hat. Drinnen, beim Bäcker esse ich ein delikates Bagietka, trinke einen kawa z mlekiem und übe, vor mich hin murmelnd, polnische Vokabeln. Am Nebentisch bewirtet ein deutsches Ehepaar wohlwollend einen polnischen Gast, der einen gebildeten, aber etwas spröden Eindruck macht.
Es hat aufgehört zu regnen. Ich wandere weiter durch einen Park. Plötzlich schwebt vor meinen Augen ein Lindenblatt in der Luft, ohne sich zu bewegen. Ich denke erst, ein Wunder ! Doch dann entdecke ich zwei fast unsichtbare dünne Fäden, die von Bäumen herabhängen, an denen es von zwei Seiten gehalten wird. Ich bin fasziniert, bleibe eine Weile unbewegt stehen und schaue meditierend auf dieses schwebende Blatt. Mein drittes Auge kribbelt. Ich trete aus dem Blick der Dualität heraus und „vergesse“ für einen kurzen Moment zu denken; ein göttlicher Augenblick. Danke.
Ich orientiere mich an meinem Stadtplan und stelle fest, dass ich ganz in der Nähe des Nationalmuseums bin, welches schlesische und polnische Malerei der letzten Jahrhunderte beherbergt. Im Museum posiert ein frisch vermähltes Ehepaar im feierlichen Dress vor einem Fotografen. Auf meiner kurzen Reise habe ich mindestens vier Hochzeiten beobachten können, alle in kirchlichem Weiß. Zwei Gemälde haben es mir angetan: eins malte Aleksander Gierymski 1893/94, das andere stammt von Apoloniusz Kedzierski (1889). Ersteres hätte das Museum erst vor kurzer Zeit für 1 Mio Zloty erworben, vertraut mir der äußerst bemühte Museumswärter an, der angesichts meiner Begeisterung für das Bild mit dem Bauernjungen erfreut ist und mir noch einen Prospekt mit einer Abbildung besagten Werkes beschafft. Dziekuje bardzo. Vielen Dank. Das zweite Bild zeigt drei Kinder auf einer Abendwiese, die ein Lagerfeuer entfachen. Piekny. Wunderschön. Ich mag schöne Bilder. Die meisten anderen Bilder waren Portraits von Adeligen, Szenen höfischen Lebens, Darstellungen von Schlachten und ein paar schrille, moderne Werke. Manches ist interessant, aber das meiste berührt nicht mein Herz.
Im Eintrittspreis des Museums ist die Besichtigung des „Panorama Raclawicka“, welches in einem unweit entfernten Gebäude aufbewahrt wird, eingeschlossen. Dabei handelt es sich um ein 120 m (!) langes Rundgemälde der Schlacht von Raclawicka, welche 1794 zwischen Polen und Russen stattgefunden hat. Das Bild wurde 1893/94 in 9 Monaten von zwei polnischen Malern (J.Styka, W.Kossak) anlässlich des 100-jährigen Jubiläums dieser für Polen siegreichen Schlacht angefertigt. Das panoramische Riesengemälde ist in Polen eine Art National-heiligtum und wird deshalb stets von großen Besucherströmen aufgesucht. Jede halbe Stunde findet eine Führung statt, in der die einzelnen Szenen in ihrer geschichtlich-dramatischen Bedeutung erläutert werden. Ausländische Besucher erhalten ein digitales Abspielgerät mit einem kleinen Lautsprecher, den man sich ans Ohr halten kann, um Informationen in der jeweiligen Sprache zu empfangen. Ich dränge mich mit den anderen Besuchern in die Rundgalerie und bestaune ein in der Tat gewaltiges, episches Kunstwerk. Die verschiedenen Handlungsstränge sind meisterhaft in Szene gesetzt. Der kreisförmige Ausstellungsraum ist von seinen Abmessungen genau auf die Länge des 120m langen Bildes abgestimmt und vermittelt einen Eindruck von Dreidimensionalität. Dieser wird durch zeitgemäße Requisiten, wie Säbel, Karren u.ä. sowie Sandboden, Gräser und Äste, welche im Bildvordergrund installiert sind, verstärkt. Ich bin beeindruckt und tief berührt, auch wenn mir jedes Kriegspathos eigentlich fremd ist.
Die gewonnene Schlacht konnte die dritte Teilung Polens übrigens nicht verhindern. 1795 verschwand Polen komplett von der Landkarte Europas. Preußen und Russland hatten sich das Land zur Beute gemacht.
Nach der Führung bin ich durchaus ein wenig erschüttert und verlasse zügig das Panorama-Gebäude, um tief durchzuatmen. Zurück auf dem Rynek lese ich während eines Salat-Menues etwas über polnische Geschichte und Kultur; passende geistige Nahrung für das gerade Erlebte.
E x k u r s :
Die Polen haben eine turbulente Geschichte hinter sich. Mannigfaltiger Adel, der sich gegen Aufklärung sowie Könige mit Ambitionen auf zentrale Staatsmacht zu wehren wusste, um seine provinziellen Privilegien zu sichern. Ein sozial stabilisierendes Bürgertum fehlte und das verarmte Bauernvolk hatte nur selten Lust, sich für ihre adligen Herrschaften in Kriegen, die das Land und ihre blaublütigen Ausbeuter retten sollte, abschlachten zu lassen. Fremd ist Herrschaft über die Rechtlosen immer, ob es nun der eigene (polnische) Adel, der russische Zar oder der preußische König ist. Politisch instabil verlor das Land zunehmend auch wirtschaftlich an Bedeutung, verpasste den Anschluss an die europäische Aufklärung und war nun leichte Beute für Preußen, Russen und die Habsburger (Österreich-Ungarn). Und so verschwand Polen nach diversen Teilungen ab 1795 über ein Jahrhundert von der Landkarte. Der polnische Adel wollte im Übrigen nie viel Geld für ein großes und abschreckendes Heer ausgeben, wenngleich Polens Leihsoldaten heroische Taten vollbrachten. Die Rettung Wiens vor den türkischen Belagerern z.B. gelang in letzter Minute einem polnischen General (Sobieski) mit seiner multi-ethnischen Söldnertruppe.
Erst nach dem ersten Weltkrieges entstand wieder ein polnischer Staat, mit unterstützung der Amerikaner (Wilson-Plan). Doch nachdem Polen sich etwa 20 Jahre später gegenüber den Nazis weigerte, den Deutschen einen Korridor zur Freien Stadt Danzig (die vom Völkerbund verwaltet wurde) zu gewähren, erzürnten sie Hitler und wurden Opfer seiner chauvinistischen Kriegslust. Stalin begehrte ebenso (östliche) Teile Polens und so wurde die junge Nation wieder einmal Kriegsbeute seiner begierigen Nachbarn. Die Neuaufteilung Europas nach dem 2. Weltkrieg fand übrigens ohne die Beteiligung der Polen statt. Zu den Konferenzen von Jalta und Potsdam wurden sie nicht geladen.
Ein paar Stichworte zur Historie sollte man kennen, um dieses in der Geschichte schwer geprüfte Volk zu verstehen. Traumata können über Generationen hinweg wirken. Und doch hat das polnische Volk sich etwas Authentisches und Unverwechselbares bewahrt: eine stolze und nicht zu unterdrückende Lust am Leben. Ästhetisch, musikalisch und dichterisch ist das Eigene und Charakteristische in ihrer Kunst immer erhalten geblieben. Die Polen waren und sind enorm schöpferisch. Fast 6 Millionen von ihnen sind von den Nazis vernichtet worden, die Hälfte davon polnische Juden. Dass sie deutsche Überheblichkeit nicht mögen und ein Vertriebenenzentrum für Deutsche auf polnischem Boden, wie es Frau Steinbach von der CDU ursprünglich plante, ablehnten, ist zu verstehen. Und doch ist mir in Polen nie Hass gegenüber Deutschen begegnet. Fast erstaunlich, aber schön. Vielleicht liegt es bei allem Stolz an ihrer katholisch gefärbten Demut oder auch daran, dass sie so viel mit dem eigenen existentiellen Überleben zu kämpfen haben. Ich weiß es nicht. Ich mag sie, wie sie sind. Tja und zu guter letzt: den Kommunismus haben sie auch nicht erfunden, den bekamen sie von den Sowjets „geschenkt“. In Polen heißt es: „Der Kommunismus passt zu uns, wie ein Sattel auf eine Kuh !“ Sie waren in der Tat das erste Volk in Europa, welches sich aus eigener Kraft von diesem Zwangssystem befreit hat. Sie wollten wieder sie selbst sein und dazu gehört für die Polen auch eine intensive Bindung an Kirche und Religion. Wie Wolf Biermann mal zur Solidarnosc-Bewegung sagte: „Lieber mit Maria im Herzen als mit Marx im Arsch.“ Recht hat er. Wir Deutschen haben diesem stolzen Mut viel zu verdanken. Ohne Solidarnosc und Papst Wojtyla gäbe es keine deutsche Einheit. Wer’s nicht glaubt, sollte sich die politische Geschichte diesbezüglich genau anschauen.
Haben die Polen auch Schattenseiten ? Gewiss. Ihren bisweilen durchaus vorhandenen Antisemitismus haben sie immer noch nicht gänzlich überwunden. Ihre katholische Ethik der Geschlechterrollen ist nach wie vor erneuerungsbedürftig, auch wenn sich einige Liberalität entwickeln konnte. Eine öffentliche Demonstration von Schwulen und Lesben kann heute erstmals stattfinden, wenn auch unter Argwohn und Missbilligung konservativer Kreise; aber solche Dinge wurden noch vor kurzem einfach verboten. Die katholische Kirche Polens mischt dabei kräftig mit und nutzt den eigenen Radiosender „Radio Marya“ für entsprechend anti-liberale Propaganda.
Nun ja, das polnische Kleinbürgertum ist, soweit ich bei meinen Reisen beobachten konnte, sehr stark auf Statussymbole fixiert: Welches Auto fährst Du ? Hast du ein Haus ? Hast du einen Titel, eine Auszeichnung oder ein Diplom ? Wie viel Geld verdienst Du? Hast du was, bist du was ! Aber so ist das Kleinbürgertum wohl überall auf der Welt, oder ? Na ja, und wie schon erwähnt, fallen Polens Frauen durch äußerste Attraktivität auf, während nicht wenige Männer den kurz rasierten Kopf und eine bullig-kräftige Körperstatur bevorzugen. Aber ich will hier keine Klischees bedienen.
Ach, ich vergaß etwas : Krakau hat im 15. Jahrhundert eine der ersten Universitäten Europas gegründet (nach Prag). Für Kultur, Bildung und Wissenschaft hat Polen stets viel Begeisterung und Engagement entwickelt; das sollte man auch nicht vergessen. Wie gesagt, ich mag dieses Volk – das ist wohl zu merken, oder ?
Das viele Laufen und aufmerksame Schauen macht mich müde und ich gönne mir wieder ein kleines Nachmittagsschläfchen im Hotel. Ich wache mit erotischen Sehnsüchten auf, die ich ignoriere, und fahre wieder in die Altstadt. Ich gönne mir in einem Café warmen sernik (Käsekuchen), übergossen mit wunderbarem Kirschkompott. Mein Gott, welch ein Genuss ! Ich flirte mit der lächelnden Kellnerin. Irgendwann zahle ich und wandere ziellos, deprimiert und dünnhäutig durch die abendlichen Gassen, in denen ich mich plötzlich verloren und einsam fühle. Was will ich hier eigentlich ? Warum suche ich diese touristisch umzingelte Abgeschiedenheit ? Was will ich in Polen ? Vielleicht doch meiner verflossenen polnischen Freundin nachtrauern ? Ich setze mich auf eine Bank und höre einem gehbehinderten alten Mann, der am Straßenrand seiner Gitarre wunderbare Klänge entlockt, zu. Ach, welch Trost für mein einsames Herz. Er spielt brasilianischen Jazz mit Elementen klassischer Musik und polnischer Folklore versetzt. Göttlich. Nur wenige Zuschauer hören ihm zu. Mitten während meines stillen Genießens kommen zwei trinkfreudige Straßen-kids mit Hund vorbei und leiern mir ein paar Zloty aus der Tasche. Ich fühle mich wehrlos, ihrem Ansinnen ein NEIN entgegen zu setzen.
Dem weißbärtigen Gitarrenspieler spende ich 10 Zloty, die er allemal verdient hat für dieses kleine Privatkonzert. Als er mit seinen beiden Krücken aufsteht und sich etwas hilflos nach dem Geld in seinem Hut bücken will, biete ich ihm meine Hilfe an. Wir kommen ins Gespräch. Seine Gitarre sei ein teures Instrument aus Malaga. Aha. Bald kehre ich zur meiner Zuschauerbank zurück, doch er spielt nicht mehr weiter, sondern telefoniert mit seinem Handy, um sich von jemandem abholen zulassen. Schade.
Ich habe genug von all den fremden Leuten um mich herum und kehre früher als geplant in mein Bett zurück, um mich einem italienischen Krimi zu widmen. Unterwegs zur tram begegne ich einem etwas bedrohlich wirkenden, angetrunkenen jungen Mann, der um eine Zigarette bittet. Ich hätte ihm die ganze Schachtel gegeben, denn seine tätowierte Hand war aus unerfindlichen Gründen zur Faust geballt. Ich lächele, um ihn friedlich zu stimmen, und etwas verwundert lächelt er zurück. Freundlichkeit wirkt manchmal Wunder. Doch irgendwie fühle ich mich unterschwellig ängstlich und bedroht. Auch in Polen gibt es Ganoven und Diebe, das ist mir durchaus klar. Meine Begeisterung für Land und Leute versickert plötzlich im Nichts. Die Gegend, in der sich mein Hotel befindet, macht ja auch nicht gerade einen Vertrauen erweckenden Eindruck, denke ich in meiner subtilen Paranoia. Ich bin froh, als ich mein Zimmer betrete. Vielleicht sollte ich schon morgen zurückfahren. Ich habe, bis auf den botanischen Park, eigentlich all das gesehen, was ich mir vorgenommen hatte. Also, ab nach Hause ! Ich beschließe dann doch, diese Entscheidung erst am nächsten Morgen zu treffen. Das Lesen beruhigt mich. Gegenüber, aus dem grau-rosanen Wohnblock ist Partylärm zu hören. Mehrstimmiges „Kalinka“ wird aus vollen Kehlen gesungen. Nicht schlecht. Die haben viel Spaß miteinander. Und ich ? Als ich schließlich einschlafen möchte, nervt mich die laute Feier meiner Nachbarn zunehmend. Heute ist Sonntag, müssen die nicht morgen früh zur Arbeit ? Immer, wenn ich gerade fast einschlafe, werde ich durch einen fröhlichen Schrei oder rhythmisches Geklatsche aufgeschreckt. Frustriert schließe ich die Fenster und erledige dabei eine Mücke. So gegen 2 Uhr falle ich endlich in meinen wohlverdienten Schlaf.
Montag, 14. August 2006
Um 7 Uhr 23 wache ich mit Kopfschmerzen auf. Weiter zu schlafen gelingt mir nicht. Ich überlege kurz abzureisen, doch ich will diesen 4-Tage-Trip zu Ende bringen, wie geplant. Erfreulicherweise scheint die Sonne in mein Zimmer, es ist nur leicht bewölkt. Kalt geduscht und rasiert gebe ich meinen Schlüssel bei der Dame an der Rezeption ab, die mit einem freundlichen Lächeln auf die gelben Rosen zeigt, die ich am ersten Abend dort überreicht hatte. Erinnert an meine liebevolle, blumige Geste, bessert sich meine Laune und ich mache mich auf zum ogrod botaniczny, dem botanischen Garten von Wroclaw. Im Einkaufszentrum trinke ich an der mir wohl gesonnenen Saft-Bar einen sok kiwi. Nach einigen Kilometern Fußmarsch durch die Stadt überquere ich eine blaue Stahlbrücke (most pokoju), die zur nördlichen Uferseite der Odra (Oder) führt. Nach angestrengtem Suchen finde ich endlich den Eingang zum rings um eingezäunten Botanischen Garten. Es ist noch relativ früh, etwa 10 Uhr 30 und auf dem Parkgelände halten sich nur wenige Besucher auf. Allein in der grünen, beschaulich angelegten Idylle fühle ich mich auf heilsame Weise von der Natur umhüllt. Nach kurzem Spazieren setze ich mich in das kleine, unspektakuläre Park-Cafe unter einen Baum, trinke woda und kawa und schreibe an meinen Reisenotizen. Das Sonnenlicht blinzelt ab und zu durch die Bäume. Ich bin erfüllt. Das Lächeln der Verkäuferin bei der Bestellung meines zweiten Kaffees ist betörend und ich tagträume sogleich, sie zu verführen. Ach liebe Frauen, was euch entgeht. Ich sterbe vor Sehnsucht nach geteilter Liebesfreud. Trotz der wärmenden Sonne friere ich etwas. Ich habe noch nichts im Magen, muss was essen. Ich bestelle bei dem jungen Reh mit den leuchtend braunen Augen: gofry. Gofry sind dicke Waffeln, meist mit Schlagsahne und Fruchtkompott garniert; ein freudig-süßer Orgasmus für den Gaumen. Die Kalorien tun mir gut, mir wird wärmer. Nach etwa 2 Stunden verlasse ich den Park in Richtung Sandkirche, in die ich mich wieder zum stillen Verweilen zurückziehe. Vor einem Fenster aus bunten Glasmosaiken am Seitengang weine ich ein paar Tränen und bitte Gott, mir seinen Frieden erfahrbar zu machen. Ich fühle mich erfüllt und erschöpft, glücklich und dennoch voll innerem Sehnen nach liebevollem Einklang mit mir und der Welt.
Nach Beenden meiner kurzen Andacht spende ich beim Hinausgehen einer jungen Geigerin vor dem Portal ein paar Münzen und bewege mich wieder zum Rynek, wo ich meinen noch nicht gestillten Hunger mit einem bukiet Surowka (Rohkostsalat) und einem gebackenen Camenbert befriedige. Ach, jetzt war wieder mehr Festigkeit in mir. Ich schreibe die restlichen Postkarten an meine Freunde und absolviere im Hotel den mir schon zur Gewohnheit gewordenen Nachmittagsschlaf.
Gegen 17 Uhr 30 mache ich mich auf den Weg in die Altstadt, mein letzter Abend beginnt. Im Cafe sitzend, brennt mir die Sonne ins Gesicht und der Käsekuchen mit Kirschkompott findet in mir ein zweites Mal einen dankbaren Abnehmer. Ein Ehepaar mit temperamentvollem Kind, welches mit einem aufgeblasenen Plastik-Fluzeug permanent auf ihren jungen Boxer-Hund einschlägt, verdirbt mir bei der Lektüre meines Ratgebers für Polen-Reisende die Konzentration, was mich zum Verlassen der Lokalität animiert: „rachunek po prosze !“ (die Rechnung bitte !). In der Bar für angehende Literaten trinke ich auf den Schreck der „Tiermisshandlung“ einen Wodka und beginne bei einem folgenden Bier an meinen Notizen weiterzuarbeiten. Zwischendurch bescheide ich diverse Betteleien mit einem deutlichen NIE (Nein). Ich fühle mich irgend-wann durch die vielen Gäste beengt und wechsele noch mal das Lokal. Unter Bäumen, mit Blick auf den mit breiten Glaselementen verzierten Brunnen des Rynek, schmiege ich mich an den Duft dieses lauschigen Sommerabends und genieße noch ein (vorerst) letztes polnisches Piwo. Danke – schön.
Im Hotel packe ich meine Sachen für die Abreise am nächsten Tag. Draußen vor der Eingangstür des dom turystyczny rauche ich noch eine polnische Menthol-Zigarette und treffe dabei eine junge Deutsche, die sich für 6 Monate in einem von der EU geförderten Austausch-programm in Olstyn (Allenstein) und den Masuren befindet. Es ist nach nunmehr fast 4 Tagen das erste Gespräch, das ich in deutscher Sprache führe. Wohltuend. Ihr Mann sei in Deutschland, hätte sich einen Sehnenriss zugezogen und sie würden sich nun nach langer Zeit in Wroclaw treffen. Große Wegstrecken könnten sie natürlich nicht zurücklegen, aber ich gebe ihr zum Abschied dennoch ein paar Tipps in Bezug auf die touristischen Sehenswürdigkeiten der Stadt. Ich gehe auf mein Zimmer. Nach ein wenig Bettlektüre mache ich um 1 Uhr das Licht aus.
Dienstag, 15. August 2006
Um 6 Uhr 45 werde ich wach und im Hotel ist schon wieder reges Treiben zu vernehmen. All die Frühaufsteher um mich herum stecken mich an und obwohl mein Zug erst um 12 Uhr 23 fährt, stehe ich nun auch auf. Kaltes Duschen, tibetische Verrenkungen, und ich bin wieder fit. Dankbar für den erlebnis- und erkenntnisreichen Aufenthalt in Breslau verabschiede ich mich mit herzlicher Stimmung bei der Dame an der Rezeption. Ich fahre noch ein letztes Mal zum Marktplatz, um mich auch dort innerlich zu verabschieden. Es ist 9 Uhr 30 und nur ein einziges Café hat schon Betrieb. Während ich meinen Kaffee trinke, füttere ich die Spatzen, die auf meinem Tisch hin und her hüpfen und nach ein paar Krümel Ausschau halten. Dann nehme ich den busowy (Linie 122) zum dworzec glowny (Hauptbahnhof). Ich verstaue meine Tasche im Schließfach und schaue mir den Bahnhof an, der 1856 erbaut wurde, und seitdem nur wenig Farbe gesehen hat. Einen Rest Schönheit besitzt er dennoch mit seinen Türmchen und verzierten Giebeln. In einem typischen polnischen Imbiss, der rustikale Hausmannskost verspricht, bestelle ich Surowka (Rohkost) und ein Omelett. Letzteres sieht aus wie eine Pizza Calzone und ist ein dicker Riesenpfannkuchen, gefüllt mit Schinken und Käse. Die eine Hälfte esse ich, die andere lasse ich mir für unterwegs einpacken.
In der Bahnhofsbäckerei hätte ich am liebsten alle möglichen Kuchen-Spezialitäten für Zuhause eingepackt. Aber ich belasse es bei einem Kaffee, den ich auf der Veranda mit Ausblick auf das Bahnhofspublikum trinke und dabei ein paar alkoholisierte Verlierer des polnischen Turbo-Kapitalismus’ betrachte. Armselig. In manchen Regionen gibt es 20 bis 25% Arbeitslosigkeit. Polen hat seit der Befreiung vom Kommunismus einen gewaltigen Umbruch zu verkraften, bei dem viele nicht mithalten können. Abfedernde Sozialsysteme sind kaum vorhanden. Wäre der Zusammenhalt in den Familien nicht so stark, wäre das sichtbare Elend sicher noch größer.
Ich begebe mich auf den peron 3, tor 5 (Bahnsteig 3, Gleis 5) und warte auf meinen IC nach Hamburg. Der Bahnhof hat 6 Bahnsteige und wirkt renovierungsbedürftig. Es gibt keine Fahrstühle für Behinderte. Die Anzeige auf dem Bahnsteig kündigt Reiseziel und Abfahrtszeit erst 5 Minuten vor Einfahrt meines Zuges an, was mich schon in gewisse Unruhe versetzt hatte. Ich habe keine Platzreservierung und steige wieder ins Raucherabteil ein, in der Hoffnung dort am ehesten einen Sitzplatz zu ergattern. Zufällig sitze ich wieder auf dem Sitz 111, diesmal in Fahrtrichtung. Kurios. Ich freue mich auf Zuhause und bin stolz darauf, diese touristische Selbsterfahrungsreise mit all seinen Gefühlsschattierungen bewältigt zu haben. Auch wenn ich meine (polnische) Ex-Freundin in manchen Momenten gerne an meiner Seite gehabt hätte, so ist mir doch klar geworden, dass es auch unabhängig von meiner Liebe zu Katarzyna eine Liebe zu dem Land Polen und seinen Menschen in mir gibt. Ich war und bin gerne hier.
Im Zugabteil befinden sich viele Polen, die nach Deutschland reisen, manche trinken schon ihr erstes Piwo. Nach einer Weile kommt der polnische Bahnservice und serviert jedem Fahrgast ein Getränk seiner Wahl. Umsonst. Das nenne ich kundenfreundlichen Service. Polen ist eben anders. Do widzenia. Bis bald.
Mein kleiner Städte-Trip nach Wroclaw (Breslau) hat mich zu einem Song animiert, den ich in Würdigung dieser beeindruckenden Stadt mit ihrer schwieirgen Geschichte, geschrieben habe.
BRESLAU-WROCLAW-SONG (10/2006)
Strophe 1
Du warst zerstört, hast dir selber wehgetan.
Du warst gefangen - in Dunkelheit und Wahn.
Du hattest dein Licht vergessen,
Du warst von Macht besessen.
Strophe 2
Menschen flohen, starben, kehrten nicht zurück,
ließen dich allein, ohne Hoffnung, ohne Glück.
Geweiht dem Untergang,
ohne Trost und Glockenklang.
Refrain (1)
In Asche versunken, warst du nun verlor’n.
Stadt in Trümmern, voller Angst und Zorn.
In Asche versunken, nur die Trauer blieb.
Mensch’n sangen weinend, dir ein Totenlied.
Strophe 3
Böse Herren gingen, auch die neuen waren streng.
Die rote Freiheit war im Herzen viel zu eng.
Du warst dir fremd geworden,
doch als Heimat oft beschworen.
Strophe 4
Neue Sprache - andere Namen, fremdes Glück.
In dein Gestern - führt kein Weg zurück.
Vergrubst die alten Waffen,
hast dich selber neu erschaffen.
Refrain (2):
Auferstanden bist du, wieder neu gebor’n.
Hast schon lang verwunden, alten Hass und Zorn.
Auferstanden bist du, blühst in neuem Glanz.
Engel singen für dich: Gottes Freudentanz.
Strophe 5
Heute bist du frei, ich bin gern bei dir zu Gast,
Ich seh’ dein Lächeln, deine Falten - ohne Hast.
Ich fahr’ auf deinem Fluß,
spüre meine Lebens-lust.
Strophe 6
Ich sitz’ im Sonnenlicht und trinke auf dein Wohl,
Ich bin allein bei dir, in meinem Herz ist’s voll.
Ich schau’ die Häuserpracht,
alle Güte in mir lacht.
Refrain (3)
Auferstanden bist du, schöner als zuvor,
Bunte Giebel leuchten, strahlen wie im Chor,
Auferstanden bist du - unperfekt, charmant.
Ich bin heute bei dir - komm, nimm meine Hand. + C-Teil + Refrain + Extro
Hier nun eine Übersetzung des "Breslau-Wroclaw-Song" ins Polnische (von Katarzyna Peuss):
1. Strofa
Byłeś zniszczony, sam się poroniłeś.
Byłeś w niewoli – w ciemności i urojeniu.
Zapomniałeś o swoim świetle
Opętany myślą o władzy.
2.
Ludzie uciekali, umierali nie wracali z powrotem.
Zostawili ciebie samego, bez nadzieji, bez szczęścia.
Skazany na upadek,
bez pociechy i brzmienia dzwonów
Refren 1.
W prochach utopiony, byłeś zgubiony.
Miasto w ruinach, pełne trwogi i gniewu.
W prochach utopiony, tylko smutek pozostał.
Ludzie śpiewali tobie płacząc, pieśń pogrzebową.
3.
Groźni władcy odeszli, nowi też byli surowi.
Czerwona wolność była sercu za ciasna
Nie poznawałeś siebe samego.
Lecz jako ojczyzna byłeś zaprzysiągnięty
4.
Nowy język – inne nazwy, obce szczęście.
Do “Wczoraj” – nie prowadzi żadna droga.
Zakopałeś starą broń,
Stworzyłeś siebie na nowo
Refren 2.
Powstałeś znowu, jakby nowo narodzony.
Zostawiłeś za sobą stary gniew i złość
Powstałeś znowu, kwitniesz w nowym blasku.
Anioły śpiewają tobie: boży taniec radości.
5.
Dzisiaj jesteś wolny chętnie jestem twoim gościem.
Widzę twoj uśmiech, twoje zmarszczki – bez pośpiechu.
Płynę twoją rzeką i
Czuję moją radosć życia.
6.
Siedzę w świetle słońca i piję na twoje zdrowie.
Jestem sam u ciebie, w moim sercu jest pełnia.
Patrzę na domów przepych.
Cała dobroć śmieje się we mnie.
Refren 3:
Powstałeś, piękniejszy niż wcześniej.
Kolorowe szczyty budynków, błyszczą się jak w chórze.
Powstałeś, bez perfekcji, szarmancki.
Jestem dzisiaj u ciebie, chodź, weź moją ręką.
Hier nun der Song als Youtube-Video:
„Mein“ deutsch-polnisches Verhältnis.
Anmerkungen zu einer belasteten Beziehung.
Ich bin kein Experte für Geschichte oder Politik. Meine Zeilen entspringen persönlichen Erfahrungen und Einschätzungen, die ich mit angeeignetem Wissen angereichert habe. Ich bin in früheren Jahren des Öfteren nach Polen gereist. Ich mag dieses Land und mag deren Menschen. Ich schätze die polnische Lebensart, polnische Literatur und Musik. Ich habe auch ein paar polnische Freunde bzw. Bekannte. Alles, was ich zum dem Verhältnis der beiden Völker zu sagen habe, ist also weitgehend subjektiv.
Ich habe einige Städte und Regionen Polens besucht (Danzig, Krakau, Breslau (Wroclaw), Thorun, Allenstein (Olstyn), Masuren, Kaschubien, Pommern, u.a.) und war überrascht, mit wie viel Engagement und Liebe zum Detail die alten Stadtkerne restauriert wurden, während gleichzeitig in den Randbezirken und ländlichen Regionen häufig noch ärmliche Zustände zu besichtigen waren. In einigen polnischen Familien konnte ich eine anrührende Gastfreundschaft kennen lernen und war beim Segeln auf den Masuren von der reizvollen und ursprünglichen Landschaft angetan. Abends an den Lagerfeuern beeindruckte mich die musikalische Leidenschaft der polnischen Segler, an deren Gesangskünsten ich mich erfreuen durfte. Ich fühlte mich als deutscher Besucher stets willkommen geheißen.
Dennoch sind die alten Wunden nicht vergessen. Bei vielen Gesprächen waren bisweilen leidvolle Geschichten aus der Zeit der Nazi-Besetzung zu hören. Der Opa einer polnischen Freundin ist z.B. in einem Außenlager des KZ Stutthoff ums Leben gekommen. Die Oma hatte schließlich die übrige Familie retten können, in dem sie sich widerwillig in die Volksdeutschen-Liste eintrug. Noch eine andere Episode: Mitten in den lauschigen Wäldern der masurischen Seenplatte zeigte mir ein polnischer Bekannter meiner Freundin Reste eines riesigen Betongemäuers, welches die Nazis als U-Boot-Reparaturwerft gebaut hatten. Von dort sollten die U-Boote nach ihrer Instandsetzung über Seen, Kanäle und Flüsse wieder ins Gebiet der Ostsee gelangen.
Ich habe auch die KZ-Gedenkstätte in Auschwitz besucht, wo mir eine Mitarbeiterin berichtete, dass es im polnischen Gebiet während des 2. Weltkrieges eine große Anzahl von KZ-Anlagen gegeben hat. Laut Daniel Goldhagen ("Hitlers willige Vollstrecker") gab es in Polen etwa 5800 Lager, einschließlich jener 399 Ghettos, in welche die jüdische Bevölkerung zunächst eingepfercht wurde, um schließlich in die Vernichtungslager abtransportiert oder von Erschießungskommandos liquidiert zu werden. Auschwitz und Birkenau sind nach wie vor stark besuchte Ort der Erinnerung an den Holocaust. Reisebusse mit Besuchern aus ganz Europa kommen täglich dorthin. Es gibt in Polen eine fast unüberschaubare Vielzahl von Orten mit Geschichten voller Gräuel und Schmerz aus der Zeit zwischen 1939 und 1945. Hanna Krall, eine polnische Journalistin und Schriftstellerin, hat viele dieser Lebenstragödien in ihrer dokumentarischen Prosa festgehalten (z.B. in: „Hypnose“ oder „Da ist kein Fluß mehr“). Auch der außergewöhnliche Erzählband "Bei uns in Auschwitz" von Tadeusz Borowski legt ein beklemmendes Zeugnis dieser Zeit ab.
Das KZ Stutthoff, in der Nähe von Danzig, welches die Deutschen bereits kurz vor dem Überfall auf Polen bauen ließen, um den polnischen Widerstand und die polnische Intelligenz internieren (und umbringen) zu können, besuchte ich ebenfalls. Auch in diesem Lager wurden, ab Sommer 1944, Menschen aus vielen europäischen Ländern vergast. Mir ist besonders dort – bei der Betrachtung von Baracken, Bildern und Dokumenten - klar geworden, dass - neben der Tötung in Gaskammern - die Vernichtung durch Arbeit, Krankheit und Hunger eine mindestens ebenso bestialische Strategie der Nazis war, sich seiner „Feinde“ zu entledigen.
Ich fühlte mich bei der Besichtigung all dieses in Jahre gekommenen Grauens sehr betroffen, doch nicht schuldig; auch wenn ich eine historische Schuld der Deutschen zweifellos anerkenne. Beklemmend war mir vor Ort aber auch deshalb zumute, weil ein Onkel von mir, den ich nie kennen lernte, für einige Zeit im KZ Stutthof als Wachsoldat abkommandiert war. Er ist später beim Kampf um Schlesien verschollen – „im Krieg geblieben“, nannte man das, nicht nur in meiner Familie.
Meine Mutter kommt aus Stolp in Pommern, heute Slupsk. Ihre Familie konnte sich 1945 über Gotenhafen (heute: Gdynia) auf die „Bukarest“ retten, die weitgehend unbehelligt von Fliegern und U-Booten in norddeutsche Gewässer gelangte. Eine erklärte Heimatvertriebene ist sie, die heute 82 alt Jahre ist, nie gewesen. Sie schwelgt bisweilen gerne in Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend; ja, die schönen Sommertage an der Ostseeküste von Stolpmünde (Ustka) und die lustigen und unterhaltsamen Häkelabende mit den BDM-Freundinnen. Ich bin sicher, innen drin war sie kein Nazi; wirklich nicht, dafür war und ist ihr Herz viel zu groß. In der ihr bis heute erhaltenen kindlichen Unschuld hat sie dennoch vieles, was unerträglich war, hingenommen. Ich habe sie oft ausgefragt über diese alte Zeit, doch habe ich ihr nie Vorwürfe gemacht. Verstehen wollte ich und Liebe macht verzeihlich. Sie ahnte das Ausmaß des Unrechts immer, auch wenn sie dagegen nie aufbegehrte, was ihr - durch den tief eingeprägten furchtsamen Respekt gegenüber Autoritäten jeder Art - unmöglich gewesen wäre. Ihr gefallener Bruder lebte ebenso in diesem emotional widersprüchlichen Dilemma von anfänglicher Begeisterung und Gehorsams-bereitschaft, von allmählichem Unrechtsempfinden und unheilvollen Zukunftsahnungen; seiner Mutter (meiner Oma) vertraute er irgendwann an: „Die letzte Kugel behalte ich für mich !“.
Ich glaube, dass die meisten Deutschen heute nicht wissen, wie exzessiv das „Böse“ in Polen während des 2. Weltkrieges gewütet hat. Eine Bilanz des Schreckens ist kaum zu ziehen. Wer sollte dies tun ? Sicher, es gibt viele dokumentierte Einzelschicksale und auch manche Sammlung historischer Daten. Doch was sich in den Biografien polnischer Familien zugetragen und emotional vererbt hat, ist in seiner Summe kaum zu verifizieren. Und dennoch wage ich zu behaupten, dass dieser mörderische epochale Zeitabschnitt eine enorme Traumatisierung in Teilen des polnischen Volks zur Folge hatte.
Ich habe kürzlich mit Interesse vernommen, dass traumatische und katastrophale Ereignisse sich nicht nur psychisch sondern auch körperlich (quasi genetisch) weiter vererben können. Kinder von KZ-Insassen leiden bisweilen offenbar unter Symptomen, die denen ihrer traumatisierten Eltern durchaus ähnlich sind. Ich will damit auch sagen, wenn man das deutsch-polnische Verhältnis verstehen und verbessern will, sollte man dazu beitragen, diese Traumen und Wunden zu heilen. Eine unabdingbare Voraussetzung dafür ist das Bemühen um Verständnis. Der Kniefall von Willy Brandt vor dem Mahnmal des Warschauer Ghettos war z.B. eine solche Geste des Verstehens. Doch dies war nur einem Menschen und Politiker möglich, der um das furchtbare Unrecht, welches die Deutschen begangen hatten, wusste.
Ich möchte in diesem Kontext von Trauma und Erinnerung auf die „Deutsch-polnische Gesellschaft für seelische Gesundheit“ hinweisen, die sich neben dem Austausch über aktuelle Aspekte psychiatrischer Arbeit auch auf bemerkenswerte Weise der Aufarbeitung kollektiver Traumata widmet.
Was ist also heute zu tun ? Nun gut, man könnte die Fragen von Schuld und Verantwortung relativieren und behaupten, wie ich es kürzlich auf einer Web-Seite nachlesen konnte, dass die Polen mitschuldig sind am Ausbruch des WK II bzw. dass sie ihr Land aus eigenen antisemitischen Motiven bereitwillig der deutschen Holocaust-Maschinerie zur Verfügung stellten. Dass es Antisemitismus in Polen gab (und gibt), steht wohl außer Frage, aber ob dieser mit dem eliminatorischen Antisemitismus (D.Goldhagen) Nazi-Deutschlands gleichzusetzen ist, ist aufgrund der Faktenlage zu bezweifeln, auch wenn es in der Tat durchaus einige Gräueltaten von Polen an Juden gegeben hat. Es hat aber gleichzeitig eine Vielzahl von Polen gegeben, die ihren jüdischen Mitbürgern auf heroische Weise geholfen haben, den Nazi-Schergen zu entkommen. Wobei man nicht vergessen darf, dass auch die Polen, als so genannte „minderwertige Rasse“ vom Vernichtungswillen deutschen Herren-menschentums bedroht waren. Nicht unerwähnt sollte in diesem Zusammenhang bleiben, dass bei den seit 1948 von Israel gewürdigten (nichtjüdischen) „Gerechten unter den Völkern“ über 6000 polnische Bürger die größte Anzahl unter den verschiedenen Nationen darstellen.
Man könnte auch, wie nicht selten zu hören ist, meinen: All das ist doch schon so lange her, warum kann nicht endlich Schluss sein mit dem Graben in schrecklichen Erinnerungen ? Doch seien wir ehrlich, wie lange brauchen wir selbst, um Verletzungen durch Dritte zu verzeihen und zu heilen. Manche Menschen brauchen dafür ein ganzes Leben. Und einige Wunden sind so tief, das manchmal die Zeit eines Lebens dafür nicht ausreicht.
Wir müssen uns, bei aller Unbeschwertheit, die sich heute im persönlichen Kontakt zwischen Deutschen und Polen in vielen Begegnungen zuträgt, hin und wieder vergegenwärtigen, dass während des 2. Weltkrieges immerhin 6 Millionen Polen ums Leben kamen, davon waren 3 Millionen polnische Juden. Dieser Verlust an Menschen machte seinerzeit 22% der polnischen Vorkriegsbevölkerung aus (vergl. „Polen im 2. Weltkrieg“, Homepage von Jacek Ruzyczka).
Wir würden doch jüdischen Menschen niemals sagen, sie sollten den Holocaust endlich ruhen lassen. Jedes Volk hat das Recht, sich seiner schmerzhaftesten Geschichtsepisoden bewusst zu bleiben und im Speicher seiner kollektiven Erinnerung zu bewahren. Und dies sicher nicht, um sich der Chance auf Verständigung und Versöhnung mit einstigen Feinden zu berauben sondern um im Licht von Erkenntnissuche und liebevollem Gedenken stetige Heilung zu ermöglichen.
Olga Tokarczuk, eine wunderbare polnische Schriftstellerin, hat in der Zeitschrift „Silesia Nova“ (01/2007) auf sympathische Weise behauptet, nicht die Polen hätten Probleme mit den Deutschen, sondern die polnische Regierung (a.a.O., S. 9). Es seien also eher die (polnischen) Politiker, welche die Stimmung im beiderseitigen Verhältnis verschlechtern würden. Der ostentative Besuch von Lech Kaczynski im KZ Stutthoff, während zu gleicher Zeit in Berlin die Ausstellung über Vertreibung eröffnet wurde, sei nach ihrer Meinung eine kleinmütige Geste gewesen. Das mag wohl sein. Doch erstens glaube ich, dass diese trotzige Reaktion Kaczynskis durchaus auf Zustimmung in Teilen des polnischen Volkes stieß und zweitens zeigt dies sehr deutlich, wie schmerzhaft noch manche alten Wunden bluten.
Auch die deutsch-russische Pipeline, an den Polen vorbei konzipiert, weckte zweifellos unangenehme Erinnerungen an die vielen Teilungen und Gebiets-Annektionen, die Polen im Laufe der Geschichte mehrfach von beiden Ländern hinnehmen musste. Es scheint mir nachvollziehbar, dass ein Volk, welches sich in der Geschichte der letzten Jahrzehnte und Jahrhunderte des Öfteren sehr real als Opfer chauvinistischer Nachbarn erfahren hat, mit ängstlicher Aggressivität reagiert, wenn es sich in einer scheinbar erneuten bedrohlichen Umklammerung wahrzunehmen glaubt. Historisch sensible Politik hätte diesen Aspekt auf jeden Fall berücksichtigen und die Polen bei diesem deutsch-russischen Projekt einbeziehen müssen.
Ich habe, als ich im letzten Jahr in Breslau war, ein Museum besucht, in dem ein 120 m langes Rundgemälde ausgestellt ist, welches die Schlacht von Raclawice abbildet, in der 1794 ein polnisches Heer russische Eindringlinge besiegt hat. Dieses Museum „Panorama Raclawicka“ ist für die Polen ein Art Wallfahrtsort. Es findet dort alle halbe Stunde eine Führung statt, die fast jedes Mal annähernd ausgebucht ist. Diese gewonnene Schlacht von 1794 konnte im Übrigen nicht verhindern, dass ein Jahr später, 1795, Polen für über hundert Jahre komplett von der Landkarte verschwunden ist - gewissermaßen im Rachen seiner hungrigen Nachbarn.
Erst 1918, nach Beendigung des ersten Weltkrieges, erstand Polen mit eigenem Staatsgebiet wieder neu – begünstigt durch den positiven politischen Einfluss der USA, was wiederum ein gutes Verhältnis zwischen Polen und den USA begründet hat, welches bis heute seine spezifischen Besonderheiten hat.
Viele Polen haben, nach meiner persönlichen Erfahrung, durchaus Verständnis für deutsche Heimatvertriebene, schließlich haben nicht wenige von ihnen ein ähnliches Schicksal erlitten. Sie sind aus ihren alten ostpolnischen Heimatgebieten, die sich Stalin einverleibt hat, nach Schlesien zwangsumgesiedelt worden. Doch die Polen legen in diesem Zusammenhang zu Recht Wert auf die Feststellung, dass Polen weder bei der Konferenz von Jalta noch bei der Konferenz von Potsdam zugelassen war. Die Aufteilung des neuen Europas und seiner Grenzen war in erster Linie Sache der alliierten Siegermächte. Und so waren sie nach einem Krieg, den die Deutschen endlich verloren hatten, wieder Spielball politischer Großmächte.
„Noch ist Polen nicht verloren“, eine Zeile aus der polnischen Nationalhymne, zeigt, wie leidenschaftlich sich dieses Volk seine tiefe Sehnsucht nach Wiederauferstehung der eigenen Nation bewahrt hat. Polen hat m.E. aufgrund seiner tragischen Geschichte noch kein stabiles Selbstvertrauen entwickeln können. Insoweit ist es anfällig für Gekränktheit und Märtyrertum. Und obwohl es stets mit dem Mut der Verzweiflung kämpfte, ist es dennoch oft untergegangen.
Der kommunistischen Diktatur haben sich viele Polen widersetzt, denn der Kommunismus ist für die Polen, wie „ein Sattel für eine Kuh“, wie es im Volksmund heißt. Der Aufstand in Posen, im Juni 1956, der sich gegen die „rote Bourgeoisie“ richtete, war noch vor der Zeit der „Solidarnosc“ ein Versuch, für mehr Wohlstand und Freiheitsrechte zu kämpfen. Eine sehr bemerkenswerte Losung dieses Aufstandes lautete: „Wir wollen Gott !“ (vergl. Krzysztof Ruchniewicz, in „Silesia Nova“ , 03/2006, S. 6 ff.). Dies macht ein bis heute geltendes religiöses Spezifikum der polnischen Bevölkerung deutlich, welche ihre rebellische Kraft immer auch aus dem (katholischen) Glauben bezogen hat; was Wolf Biermann einmal zu einer Aussage veranlasste, die - wenn ich mich recht erinnere - lautete: „Lieber mit Maria im Herzen als mit Marx im Arsch.“
Nun, ich glaube, die Deutschen haben insbesondere den Polen jene politischen Ausgangsbedingungen zu verdanken, die letztlich zu der Wiedervereinigung führten. Die polnische Solidarnosc hat mit Beharrlichkeit, Leidenschaft und religiösem Eifer zu dem Bröckeln der Hegenomie des kommunistischen Ostblocks beigetragen und dadurch geholfen, die demokratisch-moralische Grundlage für die Erweiterung und Erneuerung Europas zu schaffen.
Die aktuelle Debatte um gegenseitige Entschädigungsansprüche, die Rückgabe von so genannter Kriegsbeute und der Errichtung eines Vertriebenenzentrums macht erneut deutlich, wie fragil und verletzbar das deutsch-polnische Verhältnis in vielen Kernbereichen ist.
Ohne Frage hat es von deutscher Seite Entschädigungsleistungen an Polen gegeben. Einen adäquaten Ausgleich von Kriegsschäden können solche Wiedergutmachungen ihrer Natur nach nicht leisten, weil vieles von dem Zerstörten einerseits nur partiell messbar und zum Anderen nicht ersetzbar ist. Ob die Hingabe alter deutscher Ostgebiete (Schlesien, Pommern, etc.) an Polen allerdings in diesen deutsch-polnischen Schadensausgleich einzubeziehen ist, darf bezweifelt werden. Denn in den Verhandlungen der Siegermächte waren diese Gebiete als Umsiedlungsareale für die an Russland abzutretenden polnischen Ostzonen gedacht – was wiederum, wenn man so will, als eine unfreiwillige polnische Reparationsleistung an die Sowjetunion betrachtet werden kann. Für diese zweifellos fragwürdige Gebietsannektion im Osten wurde Polen schließlich durch Gebietsgewinne im Westen entschädigt. Wie bereits erwähnt, hatte Polen bei diesem „Deal“ kein Mitentscheidungsrecht.
Des Weiteren hat weder die alte BRD noch das vereinigte Deutschland die polnische Westgrenze bis zum heutigen Tage völkerrechtlich anerkannt. Denn das Bundesverfassungsgericht hat 1973 geurteilt, dass keine deutsche Regierung auf Gebiete innerhalb der bis zum 8. Mai 1945 geltenden Reichsgrenzen verzichten darf („Deutschlanddoktrin“). Insoweit gab es bisher lediglich diverse Gewaltverzichtserklärungen durch deutsche Regierungen. Die Deutsch-Polnische Gesellschaft hat deshalb im Oktober 2006 den Deutschen Bundestag aufgefordert, die polnische Westgrenze nun endlich völkerrechtlich verbindlich anzuerkennen und auf weitergehende Ansprüche zu verzichten.
In der Tat könnte eine solche völkerrechtliche Anerkennung der im „Vier-Mächte-Abkommen„ festgelegten deutsch-polnischen Grenze ein entscheidendes politisches Zeichen zur Vertiefung des Versöhnungsprozesses zwischen beiden Ländern sein.
Zurzeit ist der politische Trend in Deutschland jedoch ein ganz anderer. Nicht wenige Deutsche versuchen, Eigentums-ansprüche auf alte Besitzungen im heutigen Polen gerichtlich durchzusetzen; was einigen sogar bereits gelungen ist. Insbesondere die „Preußische Treuhand“, eine Kapitalgesellschaft, die ihren Anlegern Rendite verspricht, macht in dieser Frage erheblichen politischen und juristischen Druck. Dass die Deutschen, die einst für kaum zu beziffernde Kriegsschäden verantwortlich waren, heute nun ihrerseits mit Ansprüchen an verlorenes Eigentum aufwarten, löst in Polen verständlicher-weise Irritationen und Empörung aus und setzt erneut eine Spirale der gegenseitigen Schadensaufrechnung in Gang.
Die Regierung unter Donald Tusk, wird in dieser Frage sicher für einen freundlicheren Umgangston sorgen, doch in der Sache – da scheinen sich die Experten einig – zweifellos ein ebenso harter Verhandlungspartner sein, wie die alte Kaczynski-Regierung.
Im Übrigen reagiert die deutsche Öffentlichkeit auf polnische Kritik bisweilen ebenfalls ziemlich hysterisch. Als Beispiele deutscher Verärgerung seien da zu nennen, die satirische Abbildung der Vorsitzenden des Vertriebenenbundes, Erika Steinbach (in Uniform mit Hakenkreuz-Binde, sitzend auf einem knieenden Gerhard Schröder), in dem polnischen Magazin „Wprost“ sowie die Darstellung von Angela Merkel als nackte Stiefmutter (mit den Kaczynski-Zwillingen an der Brust) in der gleichen Zeitschrift im Juni 2007 - nach zähen Verhandlungen mit Polen im Rahmen des EU-Gipfels. Letztere Fotomontage veranlasste die Hamburger Morgenpost vom 26.6.07 zu der Titelzeile: „Polen verhöhnen Kanzlerin“. Erfreulicherweise nahm man diese satirische Überzeichnung in der deutschen Regierungshauptstadt etwas gelassener.
Beide Karikaturen machen deutlich, wie dominant und chauvinistisch deutsche Politik insbesondere von konservativen Polen nach wie vor wahrgenommen wird. Dies mag man bedauern; doch – wie bereits erwähnt – liegt die Ursache für die Latenz solcher Feindbilder in der tragischen Historie beider Länder, die doch ganz offensichtlich nur partiell integrativ verarbeitet ist.
Zweifellos ist also ganz grundsätzlich eine versöhnliche und verzeihliche Haltung auf beiden Seiten erforderlich, damit es zu einer deutlichen Verbesserung des deutsch-polnischen Verhältnisses kommen kann. Politische und juristische Ansprüche deutscher Bürger an kriegsbedingt verlorenes Eigentum wirken da ohne Frage kontraproduktiv und führen ihrerseits zu einer erneuten Aufrechnung der Kriegsschäden auf polnischer Seite.
Auch eine einseitige und fragmenthafte Darstellung von deutschen Vertriebenenschicksalen stößt bei vielen Polen in Anbetracht deutscher Kriegsschuld auf Unverständnis. Insoweit wird also eine faire und wahrheitsnahe Abbildung und Bearbeitung dieses Problems nur in der Betrachtung des Gesamtkontextes von Krieg und Vertreibung erfolgen können.
Solange viele Deutsche lieber den Führerbunker in der Wolfsschanze als die Gedenkstätte des KZ Auschwitz besuchen, bleibt einerseits sicher auch in unserem Land noch einiges an politischer Aufklärung zu tun, um die beiderseitige Verständigung zu vertiefen. Andererseits gibt es zwischen Polen und Deutschen bereits eine Vielzahl von Austauschprojekten, die insbesondere bei der jüngeren Generation großen Anklang finden. Im Übrigen haben die offenen Grenzen zwischen beiden Nachbarländern die Lust auf gegenseitiges Kennenlernen zweifellos gefördert. Schließlich werden nur in einem Europa der Begegnungen und geografischer Weiträumigkeit die national verengten Egoismen an Schwerkraft verlieren können, was wiederum dazu beitragen kann, dass wir uns nicht nur als Sklaven der jeweiligen Geschichte verstehen (vergl. hierzu: Olga Tokarczuk, a.a.O. S. 9). Die inzwischen erfolgte Erweiterung des so genannten Schengen-Raumes und der damit verbundene Wegfall der Schlagbäume, insbesondere in Osteuropa, weist dabei den Weg in die richtige Richtung.
Zum Schluss meiner Betrachtungen möchte ich einen Schwenk machen und auf meine anfänglich erwähnte Begeisterung für polnische Literatur und Musik zurückkommen und ein paar Bücher und CDs empfehlen, von denen ich hoffe, dass auch die Leser dieser Zeilen daran Gefallen finden mögen.
Wunderbare Lektüre waren für mich z.B.:
"Das Tal der Issa" von dem Literaturnobelpreisträger Czeslaw Milosz ist ein bezaubernder Roman, welcher mich mit seiner naturbezogenen Magie in den Bann gezogen hat. Dieses Buch ist für mich eine wirkliche Kostbarkeit.
Von Andrzej Stasiuk waren "Fado" und "Die Welt hinter Dukla" absolut beeindruckend. "Fado" ist eine Sammlung von Reisenotizen; insbesondere das Kapitel "Parodie als Methode, den Kontinent zu überleben" ist eine bemerkenswerte Betrachtung des neuen Europa aus dem Blickwinkel vermeintlicher Rückständigkeit. Stasiuk ist tiefgründig, weitsichtig und absolut sprachbegabt.
Nicht zu vergessen ist natürlich "Die Zimtläden" von Bruno Schulz, eine fast lyrische Prosa, die einem angesichts seiner Wortschöpfungskunst bisweilen den Atem raubt. Bruno Schulz lebte im galizischen Drohobycz, wo er 1942 von einem Gestapomann erschossen wurde.
Andrzej Szczypiorski ist in Deutschland erstmals mit "Die schöne Frau Seidenman" bekannt geworden; mir hat allerdings "Selbstportrait mit Frau" mehr imponiert, weil darin „historisch-biografische Beschädigungen" unter dem fast ausschließlichen Blickwindel der Liebe betrachtet werden; ein außergewöhnliches Werk, wie ich finde.
Schließlich hat es mir eine Biografie über Andrzej Szczypiorski, geschrieben von Marta Kijowska, angetan. Dort erfährt man eine Menge über die polnische Literaturszene der letzten Jahrzehnte und in diesem Kontext auch über die polnische Kriegs- und Nachkriegsgeschichte; ein absolut informatives und lesenswertes Buch.
Weitere polnische Autoren, die ich begeistert gelesen und teilweise im Text schon erwähnt habe, sind:
- Tadeusz Borowski ("Bei uns in Auschwitz")
- Hanna Krall ("Da ist kein Fluss mehr")
- Jozef Wittlin ("Das Salz der Erde")
Ich möchte nun gerne noch auf ein paar musikalische Leckerbissen hinweisen:
Absolut begeistert bin ich Anna Maria Jopek, von der ich viele CDs gehört und die ich auch schon in Hamburg live gesehen habe. Anna Maria Jopek mischt Elemente des Latin-Jazz mit slawischen Musikmotiven. Bei einigen Produktionen hat sie mit bekannten Musikern, wie z.B. Leszek Mozdzer (Piano) dem amerikanischen Gitarristen Pat Metheny sowie dem Sänger und Bassisten Richard Bona, zusammengearbeitet.
Weniger bekannt in Deutschland ist wohl Edyta Geppert, die mit der Band KROKE aus Krakau eine unglaublich beeindruckende und stilistisch vielfältige CD mit dem Titel "Spiewam Zycie" ("I sing Life") produziert hat; ein absolutes Meisterwerk, wie ich finde, in welchem Jazzklänge, jüdisch-orientalische und slawische Motive variiert werden.
Schließlich bin ich ein Fan von Aga Zaryan, die in den USA schon einigen Erfolg hatte und jüngst in Polen eine bemerkenswerte CD mit dem Titel "Umiera Piekno" vorlegt hat, in der polnische Lyrik mit melodisch-sanftem Jazz vertont wird; eine anrührende Musik, die in mir eine ganz besondere melancholische Resonanz erzeugt hat.
Ganz am Schluss möchte ich ausdrücklich Steffen Möller für sein Buch „VIVA POLONIA“ danken, mit dem er auf sehr einfühlsame und humorvolle Weise eine Menge zur deutsch-polnischen Verständigung beigetragen hat.
Ohne Frage gibt es noch Vieles, was hier an polnischer Musik und Literatur empfohlen werden könnte. Doch wer auf den Geschmack gekommen ist, wird vielleicht auch selber fündig werden.
(Dieser persönlich-politische Essay entstand im November 2007 und wurde von mir inzwischen mehrfach aktualisiert)